Gesichter des Netzwerks

Sabine Hebenstreit-Müller

„Mit einem anderen Blick die Welt immer neu zu betrachten, das ist spannend“

Frau Hebenstreit-Müller, Sie haben ein neues pädagogisches Konzept im Pestalozzi-Fröbel-Haus eingeführt: den Early Excellence-Ansatz. Warum haben Sie sich für diesen Umbruch entschieden?
Early Excellence ist ein Konzept, das eine neue Qualität in die Arbeit mit Kindern und ihren Familien hineinbringt. Es geht um Prinzipien der Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Eltern, die eigentlich für alle Bereiche relevant sind. Wir nennen es den „positiven Blick“. Der wertschätzend-respektvolle Blick auf jeden Menschen. Die Unterstützung, ja: das Entdecken von Stärken und Potentialen. Das ist für alle Bereiche wichtig, in denen man mit Menschen arbeitet.

Wie wurden Sie auf Early Excellence aufmerksam?
Damals war Early Excellence Regierungsprogramm in England. Ich hatte bereits viele internationale Kontakte und ein großes Netzwerk, daher war ich informiert auch über Early Excellence. Irgendwann sprach mich Annette Lepenies von der Heinz und Heide Dürr Stiftung an und fragte, ob ich mich womöglich dafür interessierte, Early Excellence auf Deutschland zu transferieren. Ich fand dies ausgesprochen reizvoll. Aber mir ist immer wichtig: Bevor ich etwas konkret zusage, muss ich mir vor Ort selbst ein Bild machen. So bin ich mit der damaligen Abteilungsleiterin der Kinder- und Jugendhilfe Brigitte Gerhold und unserer Fachberaterin Barbara Kühnel im Jahr 2000 nach Corby gefahren, wo Early Excellence im Pen Green Centre praktiziert wurde. Die Arbeit dort fanden wir spannend. Wir haben dann in kleinen Schritten Early Excellence im PFH aufgebaut. Seitdem besteht die Förderung und Unterstützung durch die Dürr-Stiftung und durch Heinz und Heide Dürr ganz persönlich.

Was waren Ihre ersten Erfahrungen mit Early Excellence?
Schon in unserer Piloteinrichtung, die nach Early Excellence arbeitete – das war das Kinder- und Familienzentrum Schillerstraße – zeigte sich nach kurzer Zeit, dass unser Fokus auf Beobachtung unglaublich gut war. Damals herrschte ein eher defizitärer Blick. Kinder genau zu beobachten und dies zu dokumentieren war noch nicht Teil der pädagogischen Arbeit. Zwar war schon immer klar, dass man bei Kindern dort ansetzen muss, wo sie etwas können. Aber es gab keinen systematischen Blick auf Kompetenzen, auf Potentiale, auf das, was Kinder tun und wo sie ihre Interessen haben.

Was hat sich verändert?
Das Faszinierende war: Durch diesen Perspektivwechsel hin zu dem, was Menschen tun und was sie interessiert, gingen die pädagogischen Fachkräfte anders mit den Kindern um, auch mit den Eltern, und relativ bald entstand eine wunderbare Diskussion im Kinder- und Familienzentrum Schillerstraße. Die Erzieherinnen und Erzieher sagten sich: Ich schaue anders auf Kinder, ich schaue anders auf Eltern, und was heißt das eigentlich für uns als Erzieherinnen? Wie gucken wir uns an? Welche Stärken entdecken wir eigentlich beim anderen, bei meiner Kollegin? Habe ich eigentlich immer wahrgenommen, was die alles kann? Und kann auch ich mich hier produktiv einbringen? Das führte zu enormen, zu riesigen Veränderungen. Im Laufe der Zeit interessierten sich auch andere Einrichtungen bei uns im Haus für das neue Konzept. Heute arbeiten alle PFH-Einrichtungen nach Early Excellence, und viele weitere Einrichtungen in Deutschland auch.

Ein guter Grund, stolz zu sein!
Es macht mich froh. Weil ich davon überzeugt bin, dass Early Excellence eine Konzeption ist, die tatsächlich einen Unterschied bewirkt. Die die Qualität im Sinne der Kinder und ihrer Familien verbessert. Dazu beigetragen zu haben finde ich fantastisch.

Was ist für Sie eine gute Erzieherin, ein guter Erzieher?
Eine gute Erzieherin lässt sich ein auf Kinder und ist in der Lage, sich in sie hineinzuversetzen. Sie geht respektvoll und wertschätzend mit ihnen um. Sie arbeitet mit großem Interesse daran, mehr zu erfahren über kindliche Entwicklung und wie sie Kinder in ihrer Entwicklung unterstützen und begleiten kann. Sie freut sich, wenn Kinder Schritte nach vorn machen und wenn sie ihren eigenen Weg gehen. Sie geht in einen Dialog mit den Eltern und ist interessiert an deren Wissen über ihr Kind. Sie ist selbst neugierig und wissbegierig. Sie stellt Fragen und denkt nicht, immer schon Antworten wissen zu müssen. Sie fragt auch: Wie sieht es bei den Eltern zu Hause aus, welche Erfahrungen bringen die Eltern mit? Wie kann ich diesem Kind gerecht werden? Ich denke, dass ist das, was tatsächlich wichtig ist. Es gehört weit mehr dazu, als sich ein Curriculum anzueignen. Sondern es hat auch etwas zu tun mit Persönlichkeit und dem Interesse daran, sich weiterzubilden. Offenheit und Neugierde sind wichtig.

Sie haben eben die Eltern mit ins Spiel gebracht. Was für Eltern wünschen Sie sich, oder anders herum gefragt: Was sind „gute“ Eltern … – Kann man das überhaupt so sagen?
Nein, kann man nicht. Welche Eltern wünsche ich mir… im Gegenteil! Eher: Wie gelingt es mir, alle Eltern der Kinder, mit denen ich arbeite, egal in welcher Situation, einzubeziehen, anzusprechen, wertzuschätzen, respektvoll mit ihnen umzugehen, ihnen Raum zu geben, sich einzubringen? Das ist wichtig. Und diese Frage überhaupt nicht zu stellen: Welche Eltern will ich haben? Sondern mit Neugierde und Offenheit auf die Eltern zuzugehen, so wie ich auf die Kinder zugehe. Denn eines wissen wir alle: Jedes Kind liebt seine Eltern. Und die Eltern wollen das Beste für ihr Kind. Ich kann mit diesem Kind nicht arbeiten, ich kann es nicht unterstützen und begleiten, wenn ich nicht die Eltern im Blick habe.
Kinder stehen heute vor Herausforderungen, die es früher in dem Maße nicht gab. Viele Familien brechen auseinander, die Wohnorte werden häufiger gewechselt, und auch die Situation in Kitas und Schulen ist anders geworden, auch durch den Fachkräftemangel. Welche neuen Anforderungen ergeben sich daraus für pädagogische Fachkräfte?
Kindertagesstätten, Ganztagsschulen, Familienzentren sind heute auch Orte für Kinder, die stabilisieren, die Kindern Struktur, Sicherheit und Geborgenheit geben. Hier finden Kinder Gehör und einen Raum, um das, was sie eventuell belastet, was schwierig ist, einzubringen. Das bedeutet letzthin auch einen Auftrag an die Einrichtungen. Nicht an die einzelne pädagogische Fachkraft, sondern immer an das gesamte Team. Pädagogische Einrichtungen brauchen womöglich mehr Struktur als früher, denn sie müssen mehr Stabilität geben.

Wie kann das gelingen?
Zum Beispiel sollten pädagogische Fachkräfte Eltern in ihre Arbeit mit einbeziehen. Und wenn Eltern Beratung und Unterstützung benötigen, sollten sie über Möglichkeiten Bescheid wissen und sie weiter vermitteln können. Insofern ist Vernetzung und Öffnung einer Einrichtung in den Stadtteil von eminenter Bedeutung. Man sollte beispielsweise eine Erziehungsberatungsstelle in der Nähe kennen und mit ihr in Kontakt sein. Manchmal reicht es für Eltern auch schon, wenn sie sich in einem Familienzentrum mit anderen Eltern treffen und austauschen können. Über derartige Angebote im Kiez sollten pädagogische Fachkräfte im Bilde sein.

Sie sagten einmal den Satz: „Kindern muss man Raum schaffen.“ – Was meinten Sie damit?
Kinder brauchen Raum, um sich zu entfalten. Und nicht das Gefühl, dass ständig Erwachsene um sie herum sind, gucken, was sie machen, kontrollieren, bestätigen: gut gemacht, schlecht gemacht. Kinder brauchen Räume, in denen sie sich auch einmal frei bewegen können, ohne im Blick einer erwachsenen Person zu sein. Und das sage ich, obwohl ich denke, dass das gezielte Beobachten der Kinder von großer Bedeutung ist. Aber das muss Grenzen haben. Kinder brauchen auch Räume, die unbeobachtet sind, wo sie untereinander in Kontakt kommen und ihre ganz eigenen Sachen machen können. Wo sie sich entwickeln nach ihrem Rhythmus.

Sind diese Räume heute denn kleiner geworden im Vergleich zu früher?
Sie sind kleiner geworden, ja. Es gibt heute eigentlich nur noch „Kinder-Inseln“. Kinder werden von einer Insel zur nächsten gebracht, von der Insel „Familie“ zur Insel „Kita“ oder „Schule“. Oder die Insel „Spielplatz“. Kinder sind auf jeden Fall immer unter irgendeiner Aufsicht. Erwachsene wollen wissen: Wo sind die Kinder, was machen die Kinder, passiert ihnen nichts, ist alles sicher? Und das ist nicht bloß ein größeres Kontrollbedürfnis, sondern Reaktion auf eine völlig veränderte Umwelt. Als ich Kind war, hatte ich noch weit mehr Freiräume. Das ist heute anders. Umso wichtiger ist es, dass Kitas, Schulen, die Jugendeinrichtungen mit Kindern auch die Räume um sie herum erschließen.

Gibt es Werte und Tugenden, die Ihnen besonders wichtig sind?
Humor und Neugier, daran liegt mir am meisten. Meine Neugierde erstreckt sich nicht nur auf die fremde Welt, sondern gerade auf das Naheliegende. Meine Forschungsrichtung ist ja die Ethnografie. Das heißt im Kern auch: Der fremde Blick, den ich auch auf das Vertraute werfe. Auf diese Weise entdecke ich Neues auch dort, wo man denkt: Das kennst Du doch! Mit einem anderen Blick die Welt immer wieder neu zu betrachten, das ist spannend.

Interview: Julia Ziegler

Das gesamte Interview finden Sie auf: www.pfh-berlin.de


 

Sabine
Sabine Hebenstreit-Müller (Foto: Julia Ziegler)