Vortrag von Professor Dr. Birgit Bertram, Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin, beim Forum „Und er stellte ein Kind in ihre Mitte“ des Diözesanrates des Bistums Dresden-Meißen, Leipzig 17.9.2010.
Der Titel hat vermutlich beim ersten Lesen irritiert, und das war beabsichtigt als Brecht’scher Verfremdungseffekt, denn: „Kindern erzählt man Geschichten, damit sie einschlafen, Erwachsenen, damit sie aufwachen. (Jorge Bucay). Ich möchte hier die Perspektive entwickeln, dass die Kinder in unserer Gesellschaft als wenn auch kleine Menschen durchaus als ganze Menschen in ihrer Person ganzheitlich ernst zu nehmen sind und dass wir alle als Erwachsene die Rahmenbedingungen für das Aufwachsen der Kinder so strukturieren müssen, damit die Kinder selbst als Gestalter ihrer eigenen Bildungsprozesse agieren können und selbst bestimmt und autonom ihre Entwicklungsprozesse voranbringen.
Kinder als „verschwindendes Gut in unserer Gesellschaft und gleichzeitig als „gemeinsames Gut brauchen einen Kontext zum Heranwachsen, der ihnen die Chance eröffnet, sich in Vertrauen in sich selbst und in die Umwelt, das heißt auch in die Zukunft, in ihren individuellen Potenzialen zu entwickeln. Dabei heißt Entwicklung immer, die innere mit der äußeren Wirklichkeit in einem ständigen Austausch aufeinander zu beziehen und das eigene Handeln daraus zu gestalten. Dazu bedarf es einfühlsamer und kompetenter Menschen, die diesen Prozess begleiten und unterstützen, nämlich in erster Linie die Eltern, ebenso aber auch die pädagogischen Akteure in den außerfamiliären Orten für Kinder.
Kinder wurden lange im ökonomistischen Diskurs als „privates Gut oder gar „Konsumgut ihrer Eltern angesehen; dem hat der Siebte Familienbericht (2006) das Konzept der „gemeinsamen Güter gegenübergestellt: Kinder haben einerseits im privaten Raum der Familie ihren sozialen und emotionalen Lebensmittelpunkt, sind gleichzeitig aber als zukünftige Erwachsene von allen gesellschaftlichen Mitgliedern, ob sie selbst Kinder haben oder nicht, mit Respekt und Akzeptanz in ihren Entwicklungschancen zu unterstützen, da jeder davon direkt oder indirekt, mittel- und langfristig profitiert. Denn die Kinder von heute bringen morgen ihre Potenziale in den Wirtschaftsprozess ein und werden die Ressourcen für sich und die Älteren erarbeiten. Insofern brauchen Kinder schon heute die Unterstützung von allen Erwachsenen, nicht nur ihren eigenen Eltern und den pädagogischen Akteuren in den Institutionen von Tagesbetreuung und Bildung. Denn Kinder binden die Erwachsenen an die Zukunft, und die Ressourcen für die Zukunft müssen heute nachhaltig und schonend behandelt werden, damit sie morgen ihre Wirkungsweise optimal entfalten können. Das jedenfalls ist aus dem ökologischen Diskurs zu lernen.
1. Kinder als verschwindendes Gut
Kinder werden immer mehr zu einer Minderheit in unserer Gesellschaft, und die demographische Umschichtung der Gesellschaft als Folge der längeren Lebenserwartung, der Zuwanderung und der sinkenden Geburtenzahlen hat ihren relativen Stellenwert radikal verändert. War das Verhältnis von jungen Menschen unter 20 Jahren zu den Erwachsenen über 20 Jahren vor hundert Jahren noch ausgeglichen mit etwa 1:1, so betrug diese Relation 1950 schon 1:2; heute sieht sich jeder junge Mensch bereits 4 Älteren gegenüber, und die Schätzungen für 2030 gehen von 1:7 aus. In Berlin und anderen Großstädten sind solche Relationen heute schon erreicht (Statistisches Bundesamt). Als Folge werden Kinder – relativ zu den Interessen der wachsenden Mehrheit kinderloser Menschen – mit ihren Interessen und ihren Bedarfen immer mehr als Minderheit behandelt und erfahren gesellschaftlich ähnliche Distanzierungs- und Ausgrenzungsstrategien wie andere Minderheiten auch, bis hin zu Desinteresse und Feindseligkeit (Zinnecker 2001). Immer weniger Erwachsene haben konkrete Alltagserfahrungen mit Kindern und brauchen sie auch für ihre eigene Lebensführung nicht. Den Kindern werden dann „kindgerechte“ Orte zugewiesen, an denen sich zugelassene Experten, nämlich die Eltern oder qualifizierte Erzieherinnen und Erzieher oder Lehrerinnen und Lehrer, mit ihnen befassen; sonst sollen sie den öffentlichen Raum der Erwachsenenmehrheit möglichst wenig stören.
Paradoxerweise werden auch die Ressourcen und Optionen systematisch von den Jüngeren weg und zu den Älteren hin verlagert. Kürzungen und Streichungen im Bildungsbereich von den Kindertagesstätten bis hin zu den Universitäten werden trotz der „demographischen Dividende“ (der Finanzminister spart infolge der geringen Geburtenzahlen jährlich einige Milliarden Kindergeld) als unumgänglich hingenommen, während ebenso selbstverständlich die Ausgaben für Gesundheit und Alterssicherung ständig steigen und Deutschland im Ländervergleich in diesen Sparten an der Spitze liegt, pro Kopf und gemessen am Bruttoinlandsprodukt, ohne dass die Deutschen gesünder sind oder länger leben als andere. Die deutschen Quoten für Bildung, Kinder und Familien liegen hingegen im Ländervergleich der OECD und der UNO deutlich im hinteren Feld.
2. Wider die Funktionalisierung der Bildung von Kindern
Die PISA-Diskussion hat die fachlichen Akteure auf allen Ebenen aufgeschreckt, von den Bundesministerien, Länderparlamenten und den kommunalen Schulbehörden bis zu den konkreten Institutionen, in denen den Kindern Bildung vermittelt wird, nämlich die Schulen und Kindergärten. Im wissenschaftlichen Bereich entstand eine breite Diskussion, die sich auch im Zwölften Kinder- und Jugendbericht niederschlägt. Alle Bundesländer haben neue Bildungspläne verabschiedet, die den Handlungsrahmen für die konkrete pädagogische Arbeit zur Verbesserung der Bildungspotenziale der Kinder beschreiben und einfordern.
Vor rund 40 Jahren wurde in Westdeutschland schon einmal eine Bildungsdiskussion geführt, die als „Bildungskatastrophe“ und „Bildungsmisere“ heftige bildungspolitische Aktivitäten auslöste. Eingebettet war diese Diskussion in die 68er-Bewegung, die neben ihrer politischen Bedeutung eine breite gesellschaftliche Veränderung zu mehr zivilgesellschaftlicher Liberalität und Beteiligung und individueller Verantwortung und Autonomie, Befreiung und Emanzipation von traditional vorgegebenen Rollen und Zwängen brachte. Damals prägte Ralf Dahrendorf die Formel „Bildung als Bürgerrecht“ und betonte damit nachdrücklich, dass Bildung für jeden und jede in der Gesellschaft ein Anspruch und eine Chance sei, die als politische Aufgabe der Chancengleichheit für eine umfassende Bildungsbeteiligung umzusetzen sei, um jedem Einzelnen die bestmögliche Entfaltung der eigenen Potenziale zu ermöglichen (Dahrendorf 1965). Denn die damalige Analyse der Bildungsbeteiligung erbrachte eine deutliche Bildungsferne der unteren sozialen Gruppen, der Mädchen, der Landbevölkerung und auch der katholischen Bevölkerungsteile (Dahrendorf: „das katholische Arbeitermädchen vom Land“). Als „kompensatorische Erziehung“ wurden seitdem vielfältige Bemühungen unternommen, um diese Benachteiligungen auszugleichen, die bis heute fortwirken. Profitiert haben am meisten die Mädchen von diesen Veränderungen und haben in ihren Bildungsabschlüssen inzwischen mit den Jungen gleich gezogen oder sie gar überrundet, und zwar anteilsmäßig wie auch bei den guten Noten in den Abschlüssen.
Die aktuelle Bildungsdiskussion infolge der kritischen PISA-Ergebnisse deutscher Schüler im internationalen Vergleich (Prenzel et al. 2008) gewinnt jedoch vor dem Hintergrund der demographischen Umschichtung eine manchmal fast makabre Konnotation. Obwohl seit rund 30 Jahren absehbar ist, dass die Kinderzahlen kontinuierlich abnehmen, reagieren Politik und Öffentlichkeit erst seit relativ kurzer Zeit auf diese Entwicklung. In dieser Diskussion dominieren dann Befürchtungen um die unzureichende Finanzierung der Alterssicherung und unzureichende Unterstützung im Alter, wenn nicht genug junge Menschen nachwachsen, die diese Aufgaben für die übergroße Mehrheit der älteren und alten Menschen übernehmen können, und wenn darüber hinaus die wenigen nachwachsenden jungen Menschen ihre individuellen Entwicklungspotenziale nur unzureichend ausschöpfen würden. Als Folge gerät die Bildungsdiskussion allzu schnell zu einer impliziten Forderung der jetzigen Erwachsenengeneration, die intellektuellen Potenziale und Talente der nachwachsenden Generation maximal zu entwickeln und auszuschöpfen, um maximal davon in den eigenen Interessen nach Sicherheit und Wohlstand zu profitieren. In diesem Diskurs werden also die Bildungschancen der jungen Menschen einseitig für die Bedarfe der Älteren funktionalisiert und instrumentalisiert. Ähnliches gilt für die Forderung nach dem Ausbau von Kindertagesstätten und Ganztagsschulen zur Sicherstellung der mütterlichen Erwerbstätigkeit. Hier werden, neben allen inneren Argumenten für die fachlich angemessene Umstrukturierung der außerfamiliären Orte für Kinder, einseitig die ökonomischen Interessen der Einbeziehung aller verfügbaren Arbeitskräfte vor die individuellen Entscheidungen und Präferenzen der Kinder, Mütter und Familien gestellt.
3. Kinder als aktive Gestalter ihrer Bildungsprozesse
Diese funktionalistische Betrachtung der Menschen, hier vor allem der Kinder, der Mütter und der Familien, steht in klarem Widerspruch zu den UN-Kinderrechten wie auch dem Grundgesetz als unumstößlichem Recht des Einzelnen auf freiheitliche Selbstbestimmung. Auch im wissenschaftlichen Diskurs formuliert dies etwa der Zwölfte Kinder- und Jugendbericht unter anderem auch auf der Basis der Rechte für Kinder oder auch das SGB VIII (KJHG) in seinem ersten Paragraphen. Nach diesen Vorstellungen hat jedes Kind aus sich heraus als Individuum einen uneingeschränkten Anspruch auf die bestmögliche Entfaltung seiner Persönlichkeit, und seine Entwicklungschancen bedürfen neben der Verlässlichkeit eines stabilen sozialen Mikrosystems (Familie) zur E