Early Excellence als Leitphilosophie

Veränderungsprozesse brauchen Zeit, Mut und Reflektion – gerade wenn es um pädagogische Umorientierung geht, deren Handlungsweisen sich auf Kinder und deren Familien auswirken. Die Pädagogin Jutta Burdorf-Schulz hat die Implementierung des Early Excellence-Ansatzes in verschiedenste Einrichtungen begleitet und betreut.

 

Angebotsvielfalt für Familien durch Öffnung und Vernetzung im Sozialraum

„Jede Gemeinde sollte Serviceleistungen für Kinder und ihre Familien bereitstellen. Diese Angebote müssen die Bedürfnisse der Kinder achten und ihre Existenz wertschätzen. Zudem sollen die Angebote Familien unterstützen, unabhängig von ihrem sozialen Status.“ (M. Whalley, 2008)

Diese Ausgangsüberlegung beim Start eines der ersten Early Excellence Centres in England, dem Pen Green Centre in Corby, fand auch in Deutschland in den 90er Jahren immer mehr Beachtung. Das Pestalozzi-Fröbel-Haus (PFH) in Berlin, entwickelte ab 1999, mit Unterstützung der Heinz und Heide Dürr Stiftung, den Early Excellence-Ansatz für deutsche Kindertageseinrichtungen. Die Grundelemente wurden auf unsere Verhältnisse übertragen und in der Praxis erprobt und weiterentwickelt. Eine Öffnung der Kita hin zu einem Familienzentrum ist eine der wesentlichen Zielsetzungen, da der Blick immer auf die Bedürfnisse der ganzen Familie gerichtet wird. Eng verbunden mit der ganzheitlichen Sichtweise ist die Ausrichtung auf die Stärken der Kinder, Eltern und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

„Traditionell beruhen Eltern-Bildungsprogramme meist auf einem Defizit-Ansatz und konzentrieren sich auf diejenigen Familien, die am stärksten Unterstützung benötigen, erreichen sie aber häufig mit ihrem Ansatz kaum.“ (M. Whalley, 2008)

Es gilt deshalb, den „positiven Blick“ auf das Potential eines jeden Kindes und Erwachsenen einzuüben und anzuwenden. Die partnerschaftliche Einbeziehung der Eltern bildet auch den Ausgangspunkt für die Angebotserweiterung zum Familienzentrum. Die angestrebte Öffnung – mit dem Ziel einer familienfreundlicheren Infrastruktur im Stadtteil durch Vernetzung und Kooperation mit anderen Einrichtungen – kann je nach Ausgangslage ein langjähriger Prozess sein und ist von vielen Faktoren abhängig. Es gibt also kein Patentrezept, wie die Erweiterung aussehen sollte, sondern es können nur wegweisende Hinweise gegeben werden. Im Early Excellence-Ansatz wird das Zusammenspiel einer reformpädagogisch ausgerichteten Pädagogik, die Erziehungspartnerschaft mit den Eltern, die Integration von Familienbildung und die Beteiligung im Gemeinwesen angestrebt.

Kitas stehen heute überall in unserem Land vor der Herausforderung sowohl Lern- und Bildungsraum für Kinder als auch Dienstleistungs- und Kommunikationsstätte für die ganze Familie zu sein. Der Bildung wird dabei als positiver Sozialisationsfaktor große Bedeutung beigemessen. Dafür ist es notwendig, nachhaltig neue Arbeitsstrukturen zu etablieren, die sich all diesen Aufgaben stellt. Das klingt in den Ohren vieler Praktiker wahrscheinlich nach schönen Worten, aber es stellt sich die Fragen wie das in der Praxis konkret aussehen kann?

 

Hier ein Beispiel aus dem Familienzentrum Kiezoase in Berlin Schöneberg, dass ich über zehn Jahre leiten und viele Familien begleiten durfte:
Ins Familienzentrum kamen Thomas und Susanne durch einen Pekip-Kurs mit ihrem ersten Sohn Leon. Eltern-Kind-Nachmittage schlossen sich an, die Gruppe: „Zusammen Aufwachsen“, der Austausch mit anderen Eltern war ihnen wichtig. Zwei Jahre später kamen dann auch noch die Zwillinge Paul und Julius dazu. Die Kinder sind alle in der Kita gleich nebenan betreut worden, das Konzept von Early Excellence gefiel ihnen:
„Wir finden es gut, dass mehr die Beobachtung der Kinder als Animation im Vordergrund stehen und ihnen mit ihren Stärken Raum gegeben wird, damit sie ganz gelassen ihren Weg finden können. Das gefällt uns auch im Familienzentrum. Wir haben Kontakte auf entspannte Art und Weise zu anderen Familien und bekommen Unterstützung in unserer Elternfürsorge. Seit Jahren engagieren wir uns auch und laden einmal im Monat andere Familien zu einem Sonntagsfrühstück ein.“

Die Familie als wichtigste Instanz für die Entwicklung von Kindern ist einem stetigen Wandel unterworfen. Sie ist längst nicht mehr Vater, Mutter und Kind. Neben der Kleinfamilie haben sich etliche Lebensformen etabliert, – bikulturelle-, Patchwork-, gleichgeschlechtliche und alleinerziehende Familien. Daher brauchen unterschiedliche Familien auch ganz unterschiedliche Angebote zur Unterstützung und Selbstverwirklichung. In spezifischen Gruppen und Beratungen, offenen Treffmöglichkeiten wie Familiennachmittage und durch ein buntes Aktionsprogramm, können Familien entsprechend ihrer Bedürfnisse zusammenkommen, sich kennenlernen und sich austauschen. Besonders in Belastungssituationen können sie Rückhalt, Ermutigung und Orientierung erfahren und werden dadurch gestärkt. Dies kann die soziale Sicherheit und das Selbstwertgefühl positiv beeinflussen.

Bei der Erweiterung der Angebote sollte unbedingt Zeit und Raum für Eigeninitiative und Elternbeteiligung berücksichtigt werden. Im Focus steht, Familien präventiv zu stärken und potentiell schwierige Übergänge der Lebensphasen zu unterstützen und zu begleiten.

 

Verschiedene Organisationsformen
In der Praxis haben sich in den letzten 30 Jahren in Deutschland verschiedene Organisationsformen von Familienzentren entwickelt, die sich auch bei Trägern und Einrichtungen wiederfinden, die nach dem Early Excellence-Ansatz arbeiten.

 

Kindertageseinrichtung Plus
Hier ist die Kita der Ausgangspunkt, die zusätzliche Angebote für Familien integriert. Sie werden meistens von der Kita-Leitung koordiniert und schwerpunktmäßig vom eigenen Personal und den Eltern der Kita initiiert und durchgeführt. Zum Teil existiert eine interne Arbeitsteilung, zum Teil wechseln sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ab (z.B. Durchführung von Familiencafé, Krabbelgruppe) oder es gelingt, zusätzliches Personal einzusetzen. Vorteile dieser Struktur liegen in der engen inhaltlichen und organisatorischen Verzahnung. Die Eltern der Einrichtung werden gut erreicht und die Akzeptanz ist häufig sehr hoch. Die Gefahr liegt in der Überforderung von Leitung und Team. Deshalb ist es unbedingt notwendig, dass zusätzliche Finanzen, Personal und Räumen auf Dauer gewonnen werden können.

 

Kooperationsmodell
Der Unterschied zum Kita Plus Modell besteht darin, dass die zusätzliche Angebotsentwicklung schwerpunktmäßig von einem Kooperationspartner durchgeführt wird. Typisches Beispiel ist eine bestehende Familienbildungsstätte, die sich mit einer oder mehreren Kitas zusammentut. Organisatorisch sind an der Angebotsplanung und Koordination also mehrere Partner beteiligt. Die Erzieherinnen und Erziehern der Kita sind weniger in den Prozess eingebunden, was sich in manchen Entwicklungen ungünstig auf die Akzeptanz und Weitergabe von Informationen auswirken kann. Die gute Verzahnung ist eine große Herausforderung, Eine gemeinsame Ausrichtung nach der Early Excellence Philosophie ist dabei sehr hilfreich.

 

Zentrumsmodell
Hier sind unter dem Dach zumeist eines Trägers unterschiedliche Einrichtungen der Bildung und Betreuung und Familienbildung versammelt, die in der Regel eigenständig, aber gut vernetzt arbeiten. Bei einer gemeinsamen Trägerschaft besteht der Vorteil, dass ein Gesamtkonzept mit inhaltlichen und räumlichen Überschneidungen vielfältige Berührungspunkte und Vernetzungen ermöglicht. Der Vorteil des Zentrummodells (manchmal auch Campusmodell genannt) ist, dass es über ein größeres Potential an Ressourcen verfügt und für Familien unterschiedliche Einstiegsmöglichkeiten bietet und als Anlaufstelle manchmal schon über mehrere Generationen bekannt ist. Die Schwerpunkte und die Haltung des Early Excellence-Ansatzes kann auf Menschen aller Generationen angewandt und umgesetzt werden und bereichert insbesondere die Qualität und die Willkommensatmosphäre.

 

Vernetzung und Kooperationen im Sozialraum
Für die Öffnung der Kita für weitere Familien aus dem Umfeld ist eine gute Vernetzung mit anderen Einrichtungen und Institutionen im Sozialraum und Stadtteil sinnvoll. Es sollte beachtet werden, dass keine Doppelstrukturen und Konkurrenz entstehen. Ressourcenbündelungen und Transfer haben zum Ziel, Handlungsspielräume für ein positives Familienleben zu erweitern. Zur Umsetzung dieser Zielsetzung braucht es tragfähige Kooperationen und verlässliche Partner. Es kommen neue, wichtige Arbeitsfelder dazu: zum Beispiel ist ein stärkeres Engagement im Umfeld und die Beteiligung an der Weiterentwicklung einer verbesserten Infrastruktur sind gefragt. Die Einrichtung wird mehr und mehr zur Anlaufstelle und Drehscheibe. Gut gestaltete Vernetzungen unterstützen die Möglichkeiten für Kinder und Eltern, ihre Umgebung besser kennenzulernen und für sich zu nutzen (z.B. Kontakte zu Sportvereinen, Bibliotheken, Beratungsstellen)

Hilfreich können auch Kontakte zu kommunalen Strukturen (Jugend- Gesundheitsamt) oder die Mitwirkung an sozialräumlichen oder fachlichen Arbeitskreisen sein. Die Orientierung an den tatsächlichen Bedürfnissen der Familien ist dabei immer das zentrales Handlungsprinzip und ein Qualitätsmerkmal für sinnvolle Netzwerke und Kooperationen. Das Einzugsgebiet spielt dabei natürlich eine wichtige Rolle und bestimmt, welche Unterstützung und Dienste die Familien brauchen. So stehen zum Beispiel in manchen Sozialräumen Angebote im Bereich der Gesundheits- oder Armutsprävention im Vordergrund, in anderen eher Elternkurse für „bildungsbewusste“ Familien. Je nach den institutionellen Rahmenbedingungen fällt außerdem die Entscheidung unterschiedlich aus, welche Angebote sich Kitas selbst „zutrauen“ und wo Kooperationspartner gebraucht werden.

Vertrauensvolle und verlässliche Kooperationen erarbeiten eine Verständigung über Zielsetzungen und gemeinsame Werte. Durch Austausch und Abstimmung zu lokalen Themen (z.B. Inklusion, Arbeit mit geflüchteten Menschen) können dynamische Entwicklungen und Synergieeffekte entstehen (Win-win-Situationen). Im Sozialraum kommt es darauf an auf sich aufmerksam zu machen und eine gemeinsame Haltung zu entwickeln. Wenn beim Early Excellence-Ansatz die Öffnung und Vernetzung der Kitas gefordert wird, steht die Überzeugung dahinter, dass eine Teilnahme und Einmischung in bestehende Netzwerke und Diskussionsprozesse im Stadtteil allen Familien zu Gute kommt. Es ermöglicht den „Blick über den Tellerrand“ und zeigt Optionen für Teilhabe und Weiterentwicklung auf.

 

Fazit
Für das Gelingen von Öffnung und Erweiterung einer Kita gehört nach dem Verständnis von Early Excellence eine kindzentrierte Pädagogik, die partnerschaftliche Einbeziehung der Eltern und eine an den Bedürfnissen der Familien orientierte Angebotsstruktur zusammen. Die Akzeptanz und die Fortschritte sollten regelmäßig evaluiert, reflektiert und an evtl. veränderte Bedarfe angepasst werden.

Außerdem ist es sinnvoll, durch verschiedene Methoden der Sozialraumanalyse sich ein genaueres Bild zu den tatsächlichen Bedingungen im Umfeld zu erarbeiten.

Bei all den neuen Herausforderungen brauchen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Begleitung und Kontakt zu anderen Einrichtungen, in denen ähnliche Prozesse stattfinden, was auch regelmäßige Austauschrunden und Hospitationen (nicht nur auf Leitungsebene) erforderlich machen.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass die Öffnung in den Sozialraum zusätzliche Ressourcen braucht, finanziell – räumlich – und/oder personell, wenn eine langfristige und nachhaltige Arbeit gelingen soll. Hohe Flexibilität, Fehlerfreundlichkeit und Experimentierfreude gehören letztendlich auch dazu, denn nicht alles kann sofort gelingen. Gleichzeitig braucht dieser Prozess auch klare Strukturen, die kontinuierlichen Austausch und eine geregelte Organisation ermöglichen. Es müssen Zeiträume, Zeitpunkte und sonstige Gremien des Miteinanders sinnvoll abgestimmt werden. Voraussetzung ist dabei die Bereitschaft aller Beteiligten, neue Entwicklungen zuzulassen und durch Nach- und Neudenken der eigenen Haltung, neue partnerschaftliche Wege mit den Familien zu gehen.

Veränderungsprozesse und Neuorientierung brauchen Zeit, Mut und Reflektion. Gewinnen können alle – Eltern, Familien, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Einrichtungen, Träger und das Gemeinwesen – am meisten aber die Kinder, deren reiches Potential verstärkt wahrgenommen und unterstützt wird und sie dadurch bessere Chancen der Entfaltung für ihr Leben bekommen.

Wir wollen Kinder nicht länger als schwach und ohnmächtig ansehen. Wir wollen den Reichtum ihrer Wahrnehmungen, Empfindungen und Äußerungen begrüßen und fördern und die Kinder auf ihrer Suche nach Orientierung, Einsicht und Spaß unterstützen„.
L. Malaguzzi, 1990

 

Literatur:

  • Diller, A. (2005): Eltern-Kind-Zentren Die neue Generation kinder- und familien-
    fördernder Institutionen. Grundlagenbericht im Auftrag des BMFSFJ
  • Diller, A. (2008): Angebotserweiterung oder neuer Angebotstyp? TPS 6
    Malaguzzi, L. and the Teachers (1990): Dialogues on Collaboration and Conflict
    among Children, Reggio Emilia
  • Pestalozzi-Fröbel Haus (2014), Das Leben in die Hand genommen, 25 Jahre Café
    Kiezoase, Berlin
  • Whalley, M. und das Pen Green Team (2008): Eltern als Experten ihrer Kinder,
    Dohrmann Verlag, Berlin
  • Whally, M. (2009): Man muss auf Bestehendes aufbauen! Interview in der Kita-
    Fachzeitschrift: Welt des Kindes 4/2009
  • www.heinzundheideduerrstiftung.com
  • www.pengreen.org
  • www.pfh-berlin.de

Jutta Burdorf-Schulz ist pädagogische Fachberaterin für Kindertagesstätten und Familienzentren im Pestalozzi-Fröbel Haus, Berlin.
Sie leitete über zehn Jahre ein Familienzentrum in Berlin-Schöneberg und ist als Referentin für den Early Excellence-Ansatz bundesweit unterwegs. Zuvor war sie fünf Jahre als Projektkoordinatorin an der Entwicklung des Modellprojekts „Kinder- und Familienzentrum Schillerstraße“ – dem 1. Early Excellence Centre in Deutschland beteiligt. Sie ist Erzieherin, Sozialpädagogin und schloss 2007 ein MA-Studium an der Universität Leicester, U.K. als MA of Arts for Integrated Provision for Children and Families ab.
Kontakt: burdorf-schulz@pfh-berlin.de